Heilbronn – A Nice Place To Come From
Made in WH: Warum Weihnachten eine so traurige
Sache für mich ist.
Jetzt kommt endlich wieder die schönste Zeit der Welt, des Lebens und des Jahres: die Weihnachtszeit. Noch schöner ist nur die Vorweihnachtszeit, denn die schönste Freude ist bekanntlich die Vorfreude. Sie beginnt im Spätsommer mit Zimtsteinen und Dominosternen und endet jäh Ende Dezember, wenn die jungen Osterhäschen die ollen Weihnachtsartikel aus den Supermarktregalen vertreiben. Ein Vorgang
unnötiger Grausamkeit gegen wehrlose Weihnachtsmänner und nahezu ungeborene Christkinder. Einzige Alternative wäre da doch ein besinnliches und friedvolles Ganzjahres-Weihnachten. In Rüdesheim am Rhein gibt es eine Dependance von Frau Wohlfarths weltberühmtem Nippesladen. Da ist, wie die Werbung droht, »festliche Weihnachtsstimmung – das ganze Jahr«. Das ist vorbildlich – und das wäre ganz bestimmt auch im Interesse der Winzer, denn die Vorweihnachtszeit ist die beste Gelegenheit, die unverkäuflichen Reste in den Rotweintanks unters Volk zu bringen – als Glühwein. Natürlich möchte ich keinesfalls unterstellen, dass die lauwarme, überzuckerte Gülle, die sich ab Ende November
Millionen besinnlicher Prolls rituell in den Kopf gießen, aus württembergischen Landen kommt. Das ist nämlich nur der Fall, wenn die Plempe euphemistisch als regionaler »Winzer-Glühwein« verklappt wird. Der normale, viel volkstümlichere Glühwein wird aus Wasser, Zucker, einer Gewürzmischung und viel billigerem Tankwagenrotwein unklarer Herkunft gemixt. Auf dem Spotmarkt kostet der Liter Euro-Rotwein gerade mal 38 Cent. Bei einem Durchschnitts-Tassenpreis von drei Euro entsteht so ein Aufschlag von fast viertausend Prozent, was in der Gastronomie eine absolute Traummarge darstellt. Schön, dass heute so viele Menschen im würdelosen Weihnachtsmarktgetaumel daran mitwirken.Früher war natürlich alles besser. Mitte der siebziger Jahre waren Deutschlands winterliche Städte noch nicht flächendeckend mit uniformen Sperrholzhütten zugemüllt und der Weihnachtsmarkt der schwäbischen Weltmetropole Heilbronn noch eine ziemlich überschaubare Sache. Vor dem historischen Rathaus standen zwei Handvoll zusammengenagelter Bretterbuden, elektrisch verstärktes Weihnachtsschlagergeheule war noch unbekannt, und von Gewerbescheinen oder Standplatzgenehmigung wollte keiner was wissen. Jedenfalls nicht von den zwei Kleinstgewerbetreibenden, die samt ihrem Warenkorb unbeachtet am Rande standen und froren. Hans-Dieter und ich, wir waren zehn und hatten das Leben als arme Schlucker satt. Mit wenig Geschick und ebensoviel Ausdauer hatten wir einen ganzen Korb voll kleiner erbärmlicher Tontellerchen fabriziert, irgendwie komische, in den Handflächen geknetete Dinger, die weder rund noch plan, dafür aber mit der eigenhändig streichholzgeritzten Buchstabenkombination »WH« versehen waren. Den wenigen
Interessenten, die an unserem jämmerlichen Stand vorbeischauten, erklärten wir, »WH« stehe für »Weihnachtsmarkt Heilbronn« – was die Kaufbereitschaft nicht gerade anstachelte. Angesichts des günstigen Preises von zwei Mark pro Stück eine Frechheit. Nach drei Stunden hatten wir nur eine einzige dieser scheußlichen Schalen verkauft. Da kam Hans-Dieters Mutter des Wegs, eine handelserfahrene Heilbronner Metzgersgattin, und ging in die Verkaufsoffensive. Auf ein Stück Pappe schrieb sie mit großen Lettern: »Für Aktion Sorgenkind: original Heilbronner Weihnachtsmarkt-Schale«. Eine halbe Stunde später waren alle Schalen verkauft. Wir waren reich, träumten von einem Leben ohne Eltern und planten, Anteile an einer Kaugummifabrik zu erwerben.
Zwei Tage später standen wir heulend im Postamt, wo wir unter den gestrengen Augen der Metzgersgattinden gesamten Gewinn auf ein Konto der Aktion Sorgenkind einzahlen mußten. Seitdem haben wir uns nie wieder auf diesem Geschäftsfeld versucht. Vielleicht ein Fehler – jetzt, da die Weihnachtsmärkte so boomen, sich krebsgeschwürartig durch die Innenstädte fressen und die Leute noch viel glühweindurstiger sind als früher. Wären da original handgemachte WH-Glühweinuntersetzer nicht genau das richtige für Heilbronn? ◆